Eindeutig ist hier der Beweis, dass ABS nicht auf der Suche nach dem kürzesten Bremsweg ist. Der läge bei 50 Prozent Schlupf. Wobei wir jetzt erst einmal klären müssen, was Schlupf ist. Er entsteht als die Differenz des zurückgelegten Weges bei einem frei rollenden und einem entweder beschleunigten oder gebremsten Rad.

Wenn wir z.B. von der Reifengröße 205/55 R 16 ausgehen, dann ist der Innendurchmesser der Felge 16'' * 25,4, also 40,64 cm groß. Hinzu kommen 2 * 20,5 cm * 0,55, also 22,55 cm für den Reifen. Ein Rad von 63 cm Durchmesser hat also einen Umfang von fast 2 m. Lassen wir einmal das Einsinken beim am Fahrzeug montierten Rad beiseite, dann müsste eine Radumdrehung zu 2 m Weg führen.

Legt das Rad bei einer Umdrehung weniger Weg zurück, dann dreht es durch, weil es beschleunigt wird. Ist der zurückgelegte Weg länger, dann passiert das beim Bremsen. Der Prozentsatz der Wegstreckendifferenz zur Wegstrecke selbst ist der Schlupf. Bei 50 Prozent Schlupf dreht sich das Rad auf 50 m Strecke so wenig, als hätte es nur 25 m zurückgelegt.

Und erstaunlicherweise wäre genau das der Schlupf, den ein ABS-System anstreben müsste, um den besten Bremsweg zu erreichen. Tut es aber nicht, wie das Diagramm oben zeigt. Der Schlupf bewegt sich zwischen 20 und 35 Prozent. Und das liegt an der Lenkfähigkeit, die in diesem Bereich noch einigermaßen erhalten bleibt. Etwas Bremsweg wird geopfert, um diese nicht zu gefährden.

Und jetzt ist es an der Zeit, die Regelzyklen etwas genauer zu betrachten, denn die Regelvorgänge laufen ein wenig zeitlich versetzt von den Parametern ab, als bisher beschrieben. Also gehen wir der Frage nach, welcher Wert verändert sich wie zu welcher Zeit. Dazu blicken wir zunächst auf das Bremspedal. Sie glauben gar nicht, wie wichtig das für den ganzen Prozess ist.

Der Grundsatz lautet, dass ABS-Vorgänge nur von einer Bremsung ausgelöst werden können. Treten also z.B. bei der Suche nach Fehlern im System solche in scharfen Kurven ohne Bremsbetätigung auf, so sind sie ESP und nicht ABS zuzuordnen.

Also treten wir jetzt noch einmal auf die Bremse und verringern unsere Fahrgeschwindigkeit 1. Die Beschleunigung 2 des hier betrachteten Rades wird negativ, aber noch nicht sehr. Etwas Radschlupf 3 ist durch den Reifen immer vorhanden. Der nimmt jetzt größere Werte an. Ohne ihn ist ein Bremsvorgang übrigens gar nicht denkbar.

Damit wir in eine ABS-Regelung hineinkommen, muss die Intensität des Bremsvorgangs gesteigert werden. Die Umfangsbeschleunigung wird deutlich negativer, die Fahrgeschwindigkeit nimmt rascher ab. Gleichzeitig erreicht der Schlupf einen ersten kritischen Wert. Das wiederum löst beim Steuergerät Warnstufe 1 aus. Es schließt das Ventil in der vom Hauptbremszylinder kommenden Leitung (Eingangsventil 4).

Es reicht nicht, die Fahrgeschwindigkeit nimmt stärker ab, die negative Beschleunigung (Verzögerung 2) zu, so auch der Bremsschlupf. Das Steuergerät reagiert mit Öffnung des Ventils 5 zum Rücklauf hin, der Bremsdruck 6 sinkt. Aber im ersten Moment greifen die Maßnahmen noch nicht. Erst muss der Negativtrend bei der Fahrgeschwindigkeit gestoppt werden, also die Beschleunigung 2 null werden.

Dann endlich hat der Schlupf seinen höchsten Wert überschritten. Er nimmt am Rad mit gelöster Bremse jetzt drastisch ab. Das Rad beschleunigt heftig auf die Umfangsgeschwindigkeit der anderen Räder. Im Maximum der Beschleunigung ist in diesem Diagramm auch der Wert für den Bremsschlupf so weit gesunken, dass die Verbindung zum Hauptbremszylinder 4 wieder geöffnet werden kann.

Die zum Rücklauf war schon lange vorher geschlossen worden. Ein Drucksensor signalisiert hier dem Steuergerät eine erfolgreiche Druckabnahme. Irgendwie musste auch die Rückförderpumpe in Tätigkeit gesetzt werden. Bleibt allerdings der/die Fahrer/in mit voller Wucht auf dem Bremspedal, dann geht der ganze Zyklus wieder von vorn los. Zeit zwischen den Öffnungen z.B. von Ventil 5: geschätzt 100 Millisekunden.